EUPJ Torah

Mikeitz – Deutsch

Ten Minutes of Torah

Unbeschützt dastehen – und doch vom Geist erfüllt

Rabbinerin Lea Mühlstein (Korrektur Dr. Jan Mühlstein)

In der alten Josef-Erzählung begegnet uns ein bemerkenswerter Widerspruch. Die Hofbeamten des Pharao, Inbegriff von Macht und Ansehen, werden übergangen zugunsten eines ausländischen Sklaven ohne erkennbare Qualifikationen. Doch gerade Josefs Mangel an Titeln, Abstammung und weltlicher Autorität macht ihn zu einem überzeugenden Kandidaten, Ägypten zu führen. Josefs Verletzlichkeit wird zum Medium, durch das das Göttliche sichtbar wird. Die Tora berichtet:

„Pharao sprach zu seinen Dienern: ‘Werden wir auch einen finden wie diesen, einen Mann, in welchem ein göttlicher Geist ist?’ Und zu Josef sprach er: ‘Will dir Gott dies alles bekannt gemacht hat, so ist niemand so verständig und so weise wie du. Du sollst über mein Haus gesetzt sein…’“ (Gen 41, 38–40, Übersetzung Moses Mendelssohn)

Ruth Brin – eine wegweisende amerikanisch-jüdische Dichterin, deren Werk als moderne Midrasch gelesen werden kann, weil es biblische Momente durch die gelebte Erfahrung des jüdischen Volkes interpretiert – verleiht diesem Augenblick seine theologische Form. In ihrem Gedicht über Joseph, veröffentlicht in „The Torah: A Women’s Commentary“, schreibt sie:

„Die Nacktheit Josephs vor dem Pharao war eine Nacktheit, die zugleich entblößt und schützt… die Nacktheit des Juden in der Geschichte… weder zu fliehen noch zu umarmen, sondern anzunehmen, was kommt – wie wir es in jedem Zeitalter getan haben.“

Brins Bild ist unerbittlich präzise. Sie beschreibt keine Demütigung, sondern einen Zustand spiritueller Entblößtheit, in dem nichts zwischen dem Selbst und der Wahrheit steht. In der biblischen Vorstellung ereignen sich entscheidende Begegnungen häufig dann, wenn ein Mensch ohne Schutz dasteht: Mose – der erst später im Buch Exodus erscheint – begegnet dem Göttlichen, nachdem er Macht und Privileg des Pharaonenhofes hinter sich gelassen hat, an einem brennenden Dornbusch in der Wüste. Josef steht in seiner Generation vor dem Pharao ohne andere Identität als seine Einsicht. Und Brin versteht dies nicht nur als Josefs Moment, sondern als wiederkehrende Bedingung jüdischer Existenz: Durch die Geschichte hindurch sahen sich Jüdinnen und Juden immer wieder auf diese Weise entblößt – weder vollständig geschützt noch völlig machtlos, und dennoch gezwungen, mit Klarheit und Mut in dem Raum zu stehen, der bleibt.

Die moderne Psychologie bietet eine parallele Sprache für das, was Brin beschreibt. Aufbauend auf jahrelanger Forschung zu menschlicher Resilienz bezeichnet Dr. Brené Brown Verletzlichkeit als „die Geburtsstätte von Mut“. Ihre Einsicht benennt die Kraft, die in Momenten der Offenheit entstehen kann. Brin jedoch verweist auf etwas historisch Spezifischeres: In der jüdischen Geschichte entspringt Klarheit oft nicht aus Sicherheit, sondern aus dem wahrhaftigen Leben unter Bedingungen, die man nicht kontrollieren kann.

Diese Dynamik – Klarheit, die in Situationen der Entblößtheit entsteht – ist nicht nur biblisch oder psychologisch; sie durchzieht die gesamte jüdische Geschichte. Jüdinnen und Juden kamen im 2. Jahrhundert v. d. Z. nach Rom und gründeten eine der ältesten kontinuierlich bestehenden Diasporagemeinschaften. Ihr Fortbestand hing nie von gesichertem Schutz ab. Unter Imperium und Kirche wechselte ihr Status immer wieder, und dennoch entwickelte sich eine eigene italienisch-jüdische Kultur voller intellektueller Neugier, theologischer Kreativität und tiefer Verwurzelung.

Die frühneuzeitlichen Ghettos von Venedig, Rom, Florenz und anderswo machten diese Bedingung offensichtlich. Die Einschränkung war real, doch ebenso real war die kulturelle Lebendigkeit, die innerhalb dieser Mauern entstand. Italienische Juden lebten nahe an der Macht und zugleich außerhalb ihres Schutzes. Ihre Identität blieb klar umrissen, weil sie nie vollständig abgeschirmt war.

Auch die Emanzipation löste das Prekäre der Zugehörigkeit nicht auf. 1938 verabschiedete das faschistische Italien die Rassengesetze, die Jüdinnen und Juden aus Schulen, Berufen und dem öffentlichen Leben ausschlossen. Gemeinschaften, die eng in die italienische Kultur eingebettet waren, wurden plötzlich schutzlos. Brins „Nacktheit“ wurde gesetzliche Realität. Und dennoch bauten italienische Juden nach Shoah und Krieg erneut auf – illusionslos und klaren Blickes. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi, eine der bedeutendsten jüdischen Stimmen des Nachkrieg-Italiens, schrieb: „Wenn Verstehen unmöglich ist, ist Wissen notwendig.“ Erneuerung entstand nicht aus Vergessen, sondern aus dem nüchternen Wissen um die Instabilität von Macht und aus der Weigerung, Sicherheit mit Identität zu verwechseln.

In dieser langen Geschichte der Beharrlichkeit ist auch der Aufstieg des progressiven Judentums in Italien zu verstehen. Er ist keine äußere Neuerung, sondern die jüngste Ausdrucksform einer italienisch-jüdischen Stimme, geprägt von Klarheit inmitten der Entblößtheit. Lev Chadash in Mailand, bald sein 25-jähriges Bestehen feiernd, hat eine egalitäre, intellektuell ernsthafte und zugleich warmherzige Form des Judentums geschaffen – eine Stimme, die sich in einer mehrheitlich katholischen Gesellschaft selbstbewusst äußert. Die Federazione Italiana per l’Ebraismo Progressivo (FIEP), das italienische Pendant zur URJ und kurz vor ihrem 10-jährigen Jubiläum, verleiht Gemeinden in Mailand, Rom, Florenz und anderen Städten Struktur und Anerkennung – gegründet auf Offenheit und Gleichberechtigung.

Diese Gemeinschaften beanspruchen weder zahlenmäßigen Komfort noch institutionelle Dominanz. Sie wählen Präsenz. Ihre Stimme ist nicht defensiv, sondern klar artikuliert und bringt ethische Orientierung in den öffentlichen Diskurs Italiens ein. Darin erinnern sie an Josef: ungerüstet dastehend, doch so geerdet, dass Wahrheit hörbar wird.

Durch Brins Linse betrachtet ist ihre Existenz weder triumphalistisch noch fragil. Wenn eine Gemeinschaft ohne Illusionen garantierter Macht dasteht, wird sichtbar, was zählt: Zweck, Lernen, Integrität und eine lebendige Beziehung zu Gott.

Der Torabschnitt „Mikez“ hinterlässt uns eine anspruchsvolle Einladung: Zu fragen, was wir – in uns selbst, in Gott, in unseren Gemeinschaften – sehen könnten, wenn wir es wagten, wie Josef dazustehen: ungeschützt und wahrhaftig, bereit, spirituelle Klarheit hervortreten zu lassen.

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