Chayei Sarah – Deutsch
Die Gerechten werden auch im Tod Lebende genannt
Rabbinerin Lea Mühlstein (Korrektur Dr. Jan Mühlstein)
„Es war das Lebensalter der Sara, hundert Jahre und zwanzig Jahre und sieben Jahre. Dies war das Leben der Sara.“ (Gen 23,1, an Übersetzung von Moses Mendelssohn angelehnt)
Der Toraabschnitt, der Saras Tod verkündet, trägt den Titel Chajei Sarah – das Leben Saras. Das Paradox ist beabsichtigt. Die Tora will, dass wir fragen, was es bedeutet, wenn ein Leben über den Tod hinaus weiterwirkt.
Der Talmud lehrt in Berachot 18a: „Tzaddikim b’mitatam kru’im chayim – die Gerechten werden auch in ihrem Tod Lebende genannt.“ Ihre Taten erzeugen weiterhin Leben; ihre Vision inspiriert andere. Im Tod „lebendig“ genannt zu werden, bedeutet, etwas geschaffen zu haben, das die eigene Lebenszeit überdauert.
Sara wird nicht nur für ihren persönlichen Glauben erinnert, sondern auch dafür, dass sie das Muster des Lebens gemäß des Bundes selbst begründete. Sie formt das Haus, das zum Modell des jüdischen Volkes wird: verwurzelt, dynamisch und unvollkommen – und doch getragen von moralischem und spirituellem Ziel. Ihr Lachen, ihr Ringen um Gerechtigkeit und ihre Partnerschaft mit Abraham hallen weiter. Ihre Geschichte endet, doch ihr Einfluss nicht. Chajei Sarah – das Leben Saras – bedeutet: ein Leben, das weiterlebt.
Im Laufe der jüdischen Geschichte gab es Menschen, die dieselbe Qualität verkörperten – die durch die Institutionen, Ideen und Gemeinschaften, die sie schufen, lebendig geblieben sind. Eine dieser Wegbereiterinnen ist Lily Montagu (1873–1963), die gemeinsam mit Claude Montefiore und Rabbiner Israel Mattuck das liberale Judentum im Vereinigten Königreich begründete.
Montagu, geboren in eine angesehene anglo-jüdische Familie, wurde zu einer bahnbrechenden religiösen Reformerin und Sozialaktivistin. Sie war die erste Frau, die offiziell in einer britischen Synagoge predigte – ein mutiger Schritt, der die spirituelle Führungsrolle von Frauen an der Wende zum 20. Jahrhundert neu definierte. Ihr Einfluss reichte weit über die Kanzel hinaus: Sie setzte sich für das spirituelle Wohl arbeitender Frauen ein und führte Nachmittagsgottesdienste am Schabbat ein, damit junge Frauen aus Londons West End teilnehmen konnten. Durch ihr Wirken wurde das jüdische Gebet für jene zugänglich, deren Lebensumstände bislang keinen Raum dafür ließen.
Doch Montagus Vision reichte weit über Großbritannien hinaus. Eine ihrer größten Leistungen war es, 1926 progressive Jüdinnen und Juden aus aller Welt zur Gründung der World Union for Progressive Judaism (WUPJ) zusammenzuführen. In einer Zeit, in der jüdische religiöse Autorität fast ausschließlich männlich und traditionell war, schuf sie internationale Kooperation zwischen Reform- und Liberalen Gemeinden und gab ihren gemeinsamen Idealen Stimme und Struktur. Sie verstand: Ideale überdauern nur, wenn sie ein Zuhause finden. So wie Sara und Abraham gemeinsam dem Bund ein Haus und eine Nachkommenschaft gaben, sorgte Montagu dafür, dass das progressive Judentum ein lebendiges Gerüst erhielt, das sich von Generation zu Generation erneuern konnte.
Ihre Motivation war ebenso spirituell wie institutionell. In ihrem Essay Spiritual Possibilities of Judaism To-Day von 1899 schrieb sie:
„Seit vielen Jahren wächst das Selbstbewusstsein unter englischen Juden, und sie haben sich, einander zuflüsternd, über ihren geistigen Zustand unzufrieden gezeigt. […] Gewiss, wir englischen Juden können keine Entschuldigung für fortgesetzte Gleichgültigkeit und Abwarten haben. Um unserer selbst willen müssen wir das Judentum neu beleben und, nachdem wir seine Lehre mit unserer höchsten Vorstellung von Wahrheit und Schönheit versöhnt haben, es uns wieder an den Gott binden lassen, der sich um uns sorgt.“
Wenn Berachot 18a die Gerechten „Lebende“ nennt, weil ihre Taten weiter Früchte tragen, dann sind unsere progressiven Bewegungen Teil von Montagus fortdauerndem Leben. Institutionen mögen abstrakt erscheinen, doch sie schaffen Räume, in denen unsere Gemeinschaften das Judentum lebendig werden lassen – erfüllt von Geist und Sinn. Sie sind das moderne Äquivalent zu Abrahams Zelt: offen nach allen Seiten, einladend, inklusiv und getragen von den Menschen, die in ihnen leben.
Heute tragen Bewegungen das Vermächtnis weiter, das Montagu mitgestaltet hat. In Nordamerika sorgt die Union for Reform Judaism (URJ) dafür, dass progressive jüdische Werte innerhalb und außerhalb der Gemeinden gefördert werden. In Europa stärkt die European Union for Progressive Judaism (EUPJ) Gemeinden von London bis Lissabon, von Prag bis Paris – und stellt sicher, dass der Geist der frühen liberalen und Reformpioniere immer neue Ausdrucksformen findet. Jede dieser Bewegungen existiert, weil Menschen vor uns sich weigerten, in geliehenen Räumen zu leben; sie bauten ihre eigenen. Und sie bestehen fort, weil neue Generationen diese Räume weiterhin mit Sinn erfüllen.
Diese Wahrheit bekommt besondere Bedeutung, da wir uns dem Jahr 2026 nähern, in dem die WUPJ ihr hundertjähriges Bestehen feiern wird. Hundert Jahre nach der ersten Zusammenkunft Montagus und ihrer Weggefährten, die dem progressiven Judentum eine globale Stimme gaben, werden wir nicht nur das Fortbestehen ihrer Vision feiern, sondern ihre Erneuerung. Im selben Jahr werden Reform- und Liberales Judentum im Vereinigten Königreich zu einer Bewegung vereint – ein lebendiges Zeugnis von Montagus Überzeugung, dass jüdisches Leben inklusiv, wertebasiert und progressiv sein muss. Die Feier in London im Juni 2026 wird nicht nur Geschichte würdigen, sondern uns einladen, uns neu dem Werk zu verpflichten, das unsere Bewegungen lebendig hält.
Wie Paraschat Chajei Sarah uns erinnert: Institutionen sind keine starren Denkmäler. Sie sind atmende Verkörperungen des Glaubens. Die Gerechten werden „Lebende“ genannt, weil ihre Werte in der Welt wirksam bleiben. Saras Leben setzte sich in ihren Nachkommen fort, die den Bund weitertrugen. Montagus Leben setzt sich in jeder liberalen und progressiven jüdischen Gemeinde fort, die ihre Türen in ihrem Geist öffnet.
Doch diese Beständigkeit entsteht nicht von selbst. Bewegungen und Institutionen sind nur dann lebendig, wenn Menschen sie mit Sinn erfüllen. Sie hängen von uns ab – von unserer Bereitschaft, Zeit, Energie und Herz zu investieren. Die Frage an unsere Generation lautet: Werden wir voranschreiten, um die Strukturen zu erhalten, die uns erhalten?
Paraschat Chajei Sarah fordert uns heraus, dafür zu sorgen, dass unser Glaube – wie der Sarahs – eine lebendige Kraft bleibt: nicht nostalgisch, sondern erneuert. Das wahre Maß eines Lebens sind die Leben, die es weiter hervorbringt.