Vayechi – Deutsch
Für die Zukunft versammelt
Rabbinerin Lea Mühlstein (Korrektur Dr. Jan Mühlstein)
„Jaakow ließ seine Kinder rufen und sprach: ‘Versammelt euch, ich will euch anzeigen, was euch in den spätesten Zeiten begegnen wird in den Tagen, die kommen. Kommt zusammen, und hört…’“ (Gen 49,1–2)
Am Ende des Buches Genesis weitet sich der erzählerische Blick. Nach einem Buch voller Brüche und Versöhnungen besteht Jakobs letzte Handlung in Paraschat Vajechi nicht darin, jeden Sohn einzeln zu segnen, sondern sie zusammenzurufen. Das doppelte Gebot he’asfu („versammelt euch“) und hikavtzu („kommt zusammen“) markiert eine entscheidende Verschiebung. Die Zukunft des Bundes wird nicht von einzelnen Heldengestalten getragen werden. Sie wird von einem Volk geformt, das lernt, Seite an Seite zu stehen – selbst wenn ihre Geschichten, Temperamente und Bestimmungen auseinandergehen.
Jakobs Worte sind keine Vorhersagen im modernen Sinn. Sie sind Aufträge. Jeder Sohn erhält eine Vision, die durch seinen Charakter, seine Stärken und seine Verfehlungen geprägt ist. Ihre Zukunft ist verschieden, ungleich und unvollkommen. Doch die Bedeutung des Moments liegt nicht in der Individualität der Segnungen, sondern in ihrem gemeinsamen Horizont. Die Söhne müssen die Bestimmungen der anderen hören, um ihre eigene zu verstehen. Jakob gibt ihnen keine Landkarte, sondern eine kollektive Verantwortung, die nur gemeinsam erfüllt werden kann.
Diese Szene spricht in die Gegenwart des europäischen progressiven Judentums hinein. Während meiner Kommentare zum Buch Genesis haben wir einen Kontinent durchquert, der von Vielfalt und Brüchen geprägt ist. Manche Regionen erlebten Verwüstung, andere Verborgenheit, wieder andere Unterdrückung oder mutige Erneuerung. Keine dieser Geschichten war mit den anderen identisch, doch alle beschrieben Gemeinschaften, die jüdisches Leben aus gebrochenen Vergangenheiten neu aufgebaut haben. Wie Jakobs Söhne in Paraschat Vajechi sind europäische jüdische Gemeinden aus unterschiedlichen Pfaden hervorgegangen, stehen nun jedoch vor derselben Frage: Was kommt als Nächstes – und wie gestalten wir es gemeinsam?
Die deutsch-schwedische jüdische Dichterin Nelly Sachs, die aus den Flammen der europäischen Zerstörung während der Shoah schrieb, fasste die Arbeit gemeinsamer Zukunftsbildung mit eindringlicher Klarheit. In einem ihrer Kriegszeitgedichte heißt es: „Wir gehen in die Zukunft mit den wunden Füßen der Vergangenheit.“ Dieses Bild zeigt ein Volk, das auf verstreuten Wegen zusammenkommt – gezeichnet von Verletzungen, und doch in Bewegung. Sachs verherrlicht das Leiden nicht. Sie benennt sein Gewicht. Und dennoch ist ihre Vision nicht resignierend. Für Sachs ist das Gehen in die Zukunft ein Akt moralischer Entscheidung: ein Bekenntnis zum Leben nach der Katastrophe.
Dieses Bekenntnis hat das progressive Judentum in Europa jahrzehntelang geprägt. Überall auf dem Kontinent bauten Gemeinden sich neu auf, nicht indem sie die Vergangenheit auslöschten, sondern indem sie sich weigerten, dass das Vergangene die Grenzen des Möglichen bestimmen sollte. Jede Gemeinschaft hatte ihre eigenen „wunden Füße“: die Shoah, das Verstummen unter dem Kommunismus, die Hinterlassenschaften staatlicher Kontrolle oder erzwungener Assimilation, das stille Trauma verborgener Identitäten. Und doch entstanden aus diesen Geschichten Institutionen, Führungspersönlichkeiten und Gemeinden, die darauf beharrten, dass Judentum erneuert werden kann – offen, ethisch und zugänglich.
Heute stehen wir in einem neuen Vajechi-Moment. Das Europa der Post-COVID-Zeit hat eine unerwartete Sehnsucht nach Bedeutung hervorgebracht. Menschen, die früher an den Rändern standen, suchen Gemeinschaft, Lernen und Ritual. Der zunehmende Antisemitismus hat viele dazu veranlasst, jüdische Räume nicht aus Angst zu betreten, sondern aus dem Wunsch nach Verwurzelung und Solidarität. Gleichzeitig verändern neue Bevölkerungsgruppen die Landschaft des europäischen progressiven Judentums: Israelis, die in europäische Städte ziehen, bringen spirituelle Erwartungen und kulturelle Vertrautheit mit. Neue Gemeinschaften etwa in Georgien, Litauen und Zypern vereinen lokale Juden, Rückkehrende und Neuankömmlinge auf kreative Weise.
Diese Entwicklungen lösen die Herausforderungen nicht auf: demografische Fragilität, politische Instabilität und der fortdauernde Kampf um Anerkennung in einigen Ländern. Doch nach der Logik von Paraschat Vajechi sind Herausforderungen kein Grund zur Verzweiflung. Sie sind Anstöße zur Verantwortung. Jakob idealisiert seine Söhne nicht. Er benennt ihre Begrenzungen und ihre schwierige Zukunft. Und dennoch ruft er sie zusammen, weil die Aufgabe des Bundes größer ist als jede einzelne Person. Ihre Zukunft hängt davon ab, ob sie bereit sind, sich zu versammeln, zuzuhören und aufzubauen.
Dasselbe gilt für uns. Wenn sich das europäische progressive Judentum entfalten soll, dann nicht, indem jede Gemeinschaft gleichgemacht wird, sondern indem eine kollektive Vision gepflegt wird, die groß genug ist für Unterschiede. Jede Gemeinschaft bringt ein eigenes Erbe mit – vielfältige Stimmen, verbunden durch das gemeinsame Bekenntnis zu einer Form des Judentums, die auf Würde, Gerechtigkeit und Inklusion gründet.
Nelly Sachs erinnert uns daran, dass der Weg in die Zukunft Ehrlichkeit über unsere Wunden und Mut zum Weitergehen verlangt. Paraschat Vajechi lehrt, dass Segen entsteht, wenn wir uns versammeln – nicht als einheitliches Volk, sondern als Gemeinschaft, die bereit ist, eine gemeinsame Zukunft zu imaginieren. Die Aufgabe besteht nicht darin, unsere Gemeinden zu perfektionieren, sondern sie zu versammeln, ihre unterschiedlichen Geschichten in einen gemeinsamen Zweck einfließen zu lassen und Institutionen zu bauen, die großzügig genug sind, die nächste Generation zu tragen.
Das europäische progressive Judentum verwebt weiterhin seine vielen Stränge zu einer Zukunft, die von Integrität und Hoffnung geprägt ist. Seine Gemeinden – ob lange etabliert oder neu entstehend – sind Orte, an denen jüdisches Leben mit Sorgfalt und Vorstellungskraft erneuert wird. Für diejenigen, die in Europa leben, und für jene, die diese Gemeinden nur auf der Durchreise erleben, birgt diese Landschaft ein stilles Versprechen.
Und so möchte ich uns – wie das Buch Genesis mit Jakobs Segen endet – einen abschließenden Segen mitgeben: Mögen alle, die die Schwellen der europäischen Gemeinden überschreiten, Einheimische wie Besucher, Momente der Verbundenheit und der Stärke finden. Und mögen diese Gemeinschaften stets eine Quelle des Segens sein – Orte der Erneuerung, der Würde und einer gemeinsamen jüdischen Zukunft.